Spiegelungen (2018)
Fünf Zwischensätze zu Brahms Requiem
für zwei Soprane, Solo-Violine und Ensemble
(Auftragswerk des Bremer Doms anlässlich des 150. Jahrestags der
Urauführung des deutschen Requiems von Johannes Brahms)
Gedanken zur Komposition der
„Spiegelungen“
Religion, als die wichtigste
innere Säule, auf die sich jede Kultur zumindest in ihrer Geschichte –
wenn nicht in ihrer Gegenwart – stützt, ist wie alles Menschliche ein
wandelbares Phänomen. Dass sogar das menschliche Verständnis des
Absoluten, des Einzigartigen, des Gö̈ttlichen immer neu aus der
örtlich-geschichtlichen Perspektive des Denkenden definiert wird,
scheint ein innerer Widerspruch zu sein, mit dem sich jeder Gläubige
abzufinden hat. In diesem Sinne ist die Religion in ihrem Wesen
geschichtlich.
Die
Geschichte aber ist nichts
anderes als eine Last, von der wir uns tä̈glich zu befreien versuchen.
Sie fordert uns auf, sich mit ihr auseinanderzusetzen, sie neu zu
deuten, sie aus der Starre der Zeit zu lösen, sie in ihrer Agonie vor
Vergänglichkeit zu schützen und sie aus unserer Gegenwart heraus zu
„beatmen“ (Shirin Nowrousian: „Leben ist Wort-zu-Wort-Beatmung“). Sie
ist überfordernd. Auch das Ignorieren der Geschichte ist ein –
unbewusster – Befreiungsversuch von dieser Last.
Brahms’ Entscheidung, ein
Requiem zu komponieren, ist daher per definitionem ein explizit
geschichtlicher Akt. Er musste diese Gattung von Grund auf erneuern, um
gerade ihre Geschichtlichkeit nicht zu ignorieren. Er musste ihrer
Vergangenheit seine eigene Gegenwart einhauchen: Er traf eine
ungewö̈hnliche Auswahl an Bibeltexten in deutscher Übersetzung und
machte es sich zur Aufgabe, diese in seiner individuellen
kompositorischen Sprache zu vertonen.
Spiegelungen sind fünf
Zwischensätze zu Brahms' deutschem Requiem, welche in einem Netzwerk
von Möglichkeiten mit diesem in Verbindung treten. Sie sind kein
Ausdruck einer Notwendigkeit, sondern eine mögliche (klangliche)
Wirklichkeit. Einzelne eigenständige kompositorische Gedanken wurden
formal zu einem imaginären Mobile miteinander verknüpft. Sie existieren
neben- und übereinander im Raum, sie schweben frei in der Luft und
gehen musikalische Verbindungen miteinander ein. Das abstrakt Räumliche
der Komposition nimmt ferner durch unterschiedliche Positionierung der
Interpret*innen im Dom eine konkrete Gestalt an. Der Kirchenraum
ermöglicht ein vielfä̈ltiges Nebeneinander, das mit dem
geschichtlich-zeitlichen Verhä̈ltnis zwischen dem Requiem und den
Spiegelungen korrespondiert.
In Spiegelungen wurde das Gedicht „
Die
Geschichte der steinernen Stadt“
vom iranischen Dichter Mehdi Akhavan-Sales (1928–1990) fragmentarisch
vertont. Es handelt von einem Herrscher, dessen Stadt von Piraten,
Magiern und Aufrührern heimgesucht wurde.
Er brüllte wie ein beherzter Feldher in die Stadt
hinein:
„–– Meine Tapferen! Ihr Löwen!
Frauen!
Männer!
Junge!
Kinder!
Alte! ––.“
Und er hielt viele tapfere Reden, hörte aber keine
einzige Antwort.
Ob durchs Geschick verflucht oder vom Teufel
verhext, ob diese oder andere Arglist am Werk war,
Kein Kopf gab einen Ton von sich, denn sie waren
sogleich zum kalten
Stein geworden.
Seitdem wird er der Herrscher der steinernen Stadt
genannt.
Um den Fluch aufzuheben, sollte er eine Reihe zoroastrischer Rituale
durchführen: sich im Wasser einer heiligen Quelle waschen, Ahuramazda,
die Izeds und die Amschaspandan im Gesang anrufen, schließlich sich zu
einem in der Nähe befindlichen Brunnen begeben, dort ein Feuer legen,
beten und sieben Kieselsteine in den Brunnen werfen. Er befolgt diese
Anweisungen, die Rituale bleiben dennoch ohne jegliche Wirkung:
Die glänzende Quelle trocknete vor meinen Augen.
Der Wind löschte mir mein loderndes Feuer.
Die Kieselsteine warf ich in den Brunnen, einen nach
dem anderen.
All die Amschaspandan rief ich mit Namen, aber
Statt Wasser stieg Rauch empor, als ob der Div
[Dämon] seufzte: Ah.
Das Gedicht lässt zwar zahlreiche Interpretationen zu, deutlich
beschreibt es aber eine von vielen Bewandtnissen der Religion in
unserer Zeit: Sie ist zum städigen Scheitern verurteilt. Sie scheitert,
sich von den Fesseln ihrer Vergangenheit zu befreien; sie scheitert,
das Hoheitsgebiet der Illusion zu verlassen und Realität zu werden.
Dennoch kann sie dem Menschen einen Ausweg aus dem Gewöhnlichen bieten
und ihm dazu verhelfen, das „wunderbare Gefühl der Entgrenzung und
Grenzenlosigkeit“ zu erleben. Ein Gefühl, das allen Religionen
gemeinsam und zugleich ein älteres ist als sie, denn in allen
Religionen „erkennt man den gleichen[,] vom gewöhnlichen abweichenden,
aber in sich einheitlichen Aufbau der inneren Bewegung. Sie
unterscheiden sich voneinander fast genau nur um das, was von der
Verbindung mit einem Lehrgebäude der Theologie und Himmelsweisheit
herrührt, unter dessen schützendes Dach sie sich begeben haben. Wir
dürfen also einen bestimmten zweiten und ungewöhnlichen Zustand von
großer Wichtigkeit voraussetzen, dessen der Mensch fähig ist und der
ursprünglicher ist als die Religionen.“ (Robert Musil: Der Mann ohne
Eigenschaften)
Durch die Besinnung auf diesen dem Menschen dienenden Ursprung wird die
vielfältige Koexistenz mehrerer Wirklichkeiten möglich, die sich im
Verlauf ihrer Geschichte und durch ihren jeweiligen Anspruch auf die
Absolutheit auszuschließen schienen. Diese Wirklichkeiten müssen sich
erst in uns als Rezipienten öffnen, bevor sie wieder miteinander in
Verbindung treten können. Wir sind diejenigen, die die jeder
Wirklichkeit innewohnende ursprüngliche Bewegung wiederbeleben können.
Die Spiegelungen können hoffentlich hierzu einen Anlass bieten.
UA: 30. März 2018, St. Petri Dom Bremen
Angela Postweiler, Sopran
Bauwien van der Meer, Sopran
Johannes Haase, Violine
Ensemble New Babylon, Leitung: René Gulikers